Fotos
Die langjährige Mitarbeiterin der ZeitZeugenBörse, Dr. Gertrud Achinger, hat in ihrem Archiv Dia-Bilder gefunden, die Sie als junge Studentin zusammen mit einem Freund in Berlin aufgenommen hat, und zwar an dem Tag, an dem die Mauer gebaut wurde. Wir haben die alten Dias abfotografiert und veröffentlichen sie hier zusammen mit einem Erlebnisbericht von Gertrud Achinger, den sie aus der Erinnerung an diesen historischen Tag geschrieben hat.
Gertrud Achinger:
1961 war ich Studentin an der FU Berlin und wohnte in einem kleinen Studentenheim in einer Villa in Zehlendorf. Am 13. August 1961 wollte ich mit einem Freund einige Berlin-Fotos in Ostberlin machen, die wir dann zusammen mit Fotos aus Westberlin zu einem Lichtbildervortrag Reisegruppen in Westdeutschland vorführen wollten. Ich war noch ahnungslos, als wir uns gegen 9 Uhr morgens am S-Bahnhof Zehlendorf trafen. Mein Freund hatte aber schon die neusten Nachrichten im Radio gehört. Wir waren geschockt, aber nicht absolut überrascht. Wir hatten schon länger geglaubt, dass die DDR-Regierung etwas unternehmen werde, um die Abwanderung von Arbeitskräften aus Ostberlin und der übrigen DDR zu stoppen. Als studentische Hilfskräfte hatten wir uns einige Monate für ein kirchliches Besuchsprogramm im Notaufnahmelager Marienfelde engagiert und waren angesichts des anhaltenden Zustroms von überwiegend jungen Menschen und ganzen Familien aus der DDR überzeugt, dass die DDR-Führung irgendwie versuchen werde, die Abwanderung zu stoppen. Einen Mauerbau quer durch Berlin konnten wir uns allerdings nicht vorstellen, wir glaubten eher an interne Kontrollen.
An diesem historischen Sonntag fuhren wir zunächst mit der S-Bahn zum Potsdamer Platz. Dort waren schon die ersten Absperrungen zu sehen, noch in Form von Drahtrollen, hinter denen Volkspolizisten standen. Auf westlicher Seite standen nach meiner Erinnerung amerikanische Militärpolizisten. Man konnte noch bis direkt an die Absperrung herantreten. Es waren einige Bürger:innen da, die auch versuchten, mit den Volkspolizisten zu reden, ohne irgendwelchen Erfolg.
Über den S-Bahnhof Friedrichstraße gingen wir dann auf der Ostseite bis zum Brandenburger Tor, wo die Absperrungen auch noch ziemlich provisorisch waren. Auf dem Pariser Platz standen viele Bürger:innen Ostberlins, man konnte noch ganz nah an das Brandenburger Tor herangehen. Auf westlicher Seite standen Westberliner Polizisten und vielleicht auch amerikanische Militärpolizei. Auf beiden Seiten wurden die Zivilisten zurückgehalten, es war uns aber doch noch möglich, am Brandenburger Tor von Ostberlin nach Westberlin überzuwechseln, vielleicht, weil mein Freund Schwede mit entsprechendem Pass war. Ich kann mich nicht erinnern, ob es auch anderen Personen noch gelang, auf die westliche Seite zu wechseln.
Unser letzter Mauerpunkt an diesem Tag war der Checkpoint Charlie, wo auf der Westseite ein gelangweilter amerikanischer Soldat auf einem Panzer saß, der gar nicht verstand, welche Aufgabe er da haben sollte. Die Mauer war ebenfalls noch sehr provisorisch und bestand aus brüchigen Bausteinen. Von heute aus gesehen bin ich erstaunt, dass ich nicht viel mehr Fotos gemacht habe, und das Geschehen nicht gezielter festzuhalten suchte. Ich hatte offenbar eher eine Touristenperspektive; die eigentliche Bedeutung des Tages wurde mir erst später klar. Als Zeithistorikerin fühlte ich mich nicht, auch später hielt ich meine Erinnerungen an den Mauerbau nicht irgendwie fest.
Als wir ins Studentenheim zurückkamen, war dort hektische Aktivität. Mehrere der Bewohner:innen kamen aus Ostberlin und dem Berliner Umland und hatten dort Familie und Freund:innen. Von denen sollten einige noch schnell in den Westen geholt werden und deshalb verwandelte sich unser Studentenheim in eine Art von Fälscherwerkstatt. Wir sammelten westdeutsche Reisepässe, vornehmlich unsere eigenen, und versahen sie, ziemlich laienhaft, mit den Fotos der zu „Rettenden“. Mit einem hart gekochten Ei oder einer rohen Kartoffel komplettierten wir den Stempel über dem neuen Foto. Zu den notwendigen Dokumenten gehörte noch ein Einreiseschein, auf dem die Ostberliner Grenzkontrolleure Name, Passnummer und Einreisedatum der Ein- und Ausreisenden vermerkten. Er war mit Maurerstift in Blau geschrieben und konnte mit einiger Mühe mit einem neuen Datum versehen werden. Wir hatten den Eindruck, dass einige Grenzkontrolleure in den ersten Tagen nach Mauerbau die Fälschungen zwar erkannten, aber darüber hinwegsahen. Diese Dokumente überreichten wir meist im S-Bahnhof Friedrichstraße an die übertrittswilligen Freund:innen und Familienangehörigen der Heimbewohner:innen. Dabei war mein schwedischer Freund besonders gefragt, weil er mit minimaler Kontrolle über den Checkpoint Charlie gehen konnte. Insgesamt brachten wir etwa 12 Personen nach Westberlin, und nicht immer waren diese begeistert, dass sie ihr Leben in Ostberlin oder Brandenburg so schnell und unvorbereitet aufgeben sollten. Ein Ostberliner Wissenschaftler, dessen Frau mit der kleinen Tochter zufällig am Wochenende des 13. August in Westberlin bei ihren Eltern zu Besuch war und dort blieb, lehnte es kategorisch ab, Wohnung und Stellung in Ostberlin zu verlassen. Ein Jugendlicher, Bruder einer Studentin in unserem Studentenheim, Sohn eines Arztes im Umland, wohnte dort in einem schönen Haus an einem See, hatte eine Freundin und wollte ebenfalls nicht nach Westberlin geschleust werden. Er wurde aber von seinen Eltern überredet, die ebenfalls zufällig am 13. August in Westdeutschland auf Verwandtenbesuch waren. Sie selbst gingen zurück in die DDR, wollten ihren Sohn aber unbedingt im Westen wissen.
Unsere Fälscherwerkstatt musste schließen, als die Ostberliner Behörden das Procedere des Besuchs von Westdeutschen in Ostberlin änderten. Der Knackpunkt war, dass der handgeschriebene Begleitschein, den man zunächst mit nach Westberlin nehmen durfte, jetzt bei der Ausreise wieder eingesammelt wurde. Damit fehlte ein wesentlicher Teil der Dokumente, die Ausreisewillige brauchten. Außerdem waren alle engen Freund:innen und Familienangehörigen der Bewohner:innen inzwischen im Westen. Den Abschluss der Aktion bildete eine große Party von „Rettern“ und „Geretteten“, wir damals sagten. Später habe ich häufig darüber nachgedacht, ob es nicht eine Anmaßung war, auf diese Weise in das persönliche Schicksal anderer Menschen so direkt einzugreifen. Aber damals fühlten wir uns als Heldinnen und Helden, und das erklärt vielleicht auch, dass wir keinerlei moralische Bedenken hatten, die Grenzkontrolleure zu täuschen.