Während der letzten drei Wochen wurde unser Büro in der Togostraße zu einem “Außerschulischen Lernort”. Mit fünf engagierten Schülerinnen des 9. Jahrgangs der Weddinger Herbert-Hoover-Schule haben wir erprobt, wie man mit jungen Menschen eine Migrationsgeschichte erschließen und welche besonderen Funktionen Zeitzeugenarbeit haben kann.
Im Mittelpunkt unseres Workshops stand die Geschichte von Aylin, die Ende der 60er Jahre als sogenanntes Gastarbeiterkind aus Istanbul nach Westberlin kam. In ihrer neuen Umgebung wuchs sie als das erste Mädchen mit Migrationshintergrund auf, was sie oft vor schwierige Herausforderungen stellte. In der Schule wurde sie zunächst ignoriert und später rassistisch angegriffen. Deutsch brachte sie sich selbst bei und erlebte gute Lehrkräfte und freundliche Mitschüler:innen erst nach einem Schulwechsel. Ihre Eltern wollten um keinen Preis auffallen in dem fremden Land. Sie setzten sich nicht gegen ungerechte Behandlungen zur Wehr und sprachen immerzu von ihrer Rückkehr in die Türkei. Als Aylin 15 Jahre alt war, stellte sie ihre Eltern vor ein Ultimatum: Entweder schickten sie sie auf eine Schule in Istanbul oder sie würde dieses fremde Land fortan zu ihrer Heimat machen.
Aylin blieb in Berlin, auch als ihre Eltern in den 80er Jahren in die Türkei zurückgingen. Sie verbrachte ihr ganzes Leben hier und spürt dennoch bis heute den Zwiespalt, den viele Menschen aus der Generation der “Gastarbeiterkinder” verspüren. In Deutschland bleibt sie “die Türkin”, egal wie sehr sie sich selbst mit dem Land identifiziert. In der Türkei ist sie “die Deutsche”.
Wie es sich anfühlt, mit dieser Ambivalenz zu leben und immer um Akzeptanz und Gleichbehandlung kämpfen zu müssen, war ein zentrales Thema, über das die Schülerinnen mit unserer Zeitzeugin sprachen. Die verschiedenen Themen, die wichtig in Aylins Biografie sind, haben sich die Schülerinnen in der Vorbereitung selbst erarbeitet. Sie haben sich mit der Bedeutung von Zeitzeugenschaft auseinandergesetzt, Fragetechniken kennengelernt, Hintergrundrecherche betrieben und verschiedene Dokumentationsformen ausprobiert. Das Zeitzeugeninterview mit Aylin haben sie eigenständig durchgeführt und aufgezeichnet und mit viel Geschick und Kreativität eine Präsentation ihrer Interviewergebnisse ausgearbeitet.
Am Ende des Workshops haben wir die Schülerinnen gefragt, warum es wichtig ist, über Geschichten wie die von Aylin zu sprechen. Sie kamen zu der Schlussfolgerung, dass diese Geschichten die Lebensumstände und Erfahrungen von Menschen sichtbar machen, von denen sie zuvor nichts geahnt haben. Sie haben gemerkt, dass es ähnliche Geschichten teilweise auch in ihren eigenen Familien gibt und eine ganz neue Wertschätzung den Menschen gegenüber gewonnen. Sie haben außerdem festgestellt, dass sie kaum etwas über die Situation der ersten “Gastarbeitenden” und “Gastarbeiterkinder” wussten und auch nicht darüber, was es bedeutet, sich anzunähern und gesellschaftlich zusammenzuwachsen. Für sie ergab sich daraus die Erkenntnis, dass man unbedingt mehr über diese Thematiken aufklären muss.
Auf unsere Frage, was sie aus dem Workshop mitnehmen würden, antworteten sie, wie viel Spaß Teamarbeit machen kann – dass es sich lohnt, genauer hinzuschauen und festzustellen, dass Menschen nicht gleich sind, sondern dass wir alle unterschiedliche Erfahrungen machen – dass das Leben gute und schlechte Seiten hat, und dass es besser ist, sich auf die guten Seiten zu konzentrieren, weil man daraus Kraft und Stärke ziehen kann. Darüber hinaus haben sie es als eine Bereicherung empfunden, Aylin und ihre Geschichte kennenlernen zu dürfen. Aylin hat ihnen nahe gebracht, dass man Menschen nicht nach Äußerlichkeiten, Herkunft oder Religion beurteilen sollte und dass es wichtig ist, sich gegenseitig zu helfen und für sich und seine Überzeugungen einzustehen.
Ein schöneres Feedback hätten wir uns nicht wünschen können!
Wir danken den fünf Schülerinnen und ihrer Lehrerin, dass sie mit so viel Begeisterung, Einsatz und Einfühlungsvermögen an unserem Workshop teilgenommen haben. Und wir danken unserer Zeitzeugin Aylin, die uns mit ihrer Geschichte und ihrem großen Herzen sehr beeindruckt hat.
Wir haben die Workshop-Reihe im Rahmen unseres Projekts “Zeitzeug:innen mit Migrationsgeschichten” durchgeführt, das von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin gefördert wird. Die Zusammenarbeit mit der Herbert-Hoover-Schule verdanken wir dem Projekt “Außerschulische Lernorte” des Friedrichshain-Kreuzberger-Unternehmervereins, das vom Quartiersmanagement Pankstraße ermöglicht wird.